Zukunft entsteht aus Krise

Mein Beitrag 'Der heilsame Einbruch des Unerwarteten' im Sammelband 'Zukunft entsteht aus Krise', herausgegeben vom Wissenschaftsjournalisten Geseko von Lübke zur Frage der Bedeutung von Krisen im individuellen wie kulturellen Bereich.

 

In diesem Beitrag werden in einem Gespräch die Balance zwischen Sicherheit und Wandel behandelt. Wir brauchen einerseits ein  vertrautes Setting und eine relativ sichere Umgebung, um Krisen mit dem notwendigen Selbstvertrauen anzugehen. Andererseits besteht auch ständig die Gefahr der Fixierung, die Krisen geradezu heraufbeschwört. Es geht darum,  die ständige Bewegung des Lebens, den Wandel von Bedingungen als Übungsfeld zu nutzen. Nicht zu vergessen die Bürde unserer Bedeutsamkeit, der grösste Stolperstein, wenn es darum geht, Krisen zu meistern. Es ist dieses Verständnis für die minimal movements, die uns helfen, in kritischen Situationen trittsicher zu bleiben.

 

Die tapferen Schneiderinnen

"Die tapferen Schneiderinnen"  sind einem einwöchigen Psychodrama-Seminar entsprungen. Teilnehmerinnen waren Frauen aus verschiedenen Altersgruppen und Berufen. Es war als nachdenkliche  Runde gedacht. Doch dann kletterte einer durch ein geöffnetes Fenster, der es mit dem Ernst nicht so ernst nahm, eher auf Widerspruch und Spontanität aus war, entschlossen  dem Verlauf der weiteren Ereignisse seinen Stempel aufzudrücken.

 

Was sich da einmischte, war eine Personifikation 'des tapfere Schneiderleins'. Seine bravourösen Eskapaden - eine Art Antithese zur landesläufigen Version von Erfolg  -  seien genau das, was dem ureigenen Wissen von Frauen entspräche; so das Schneiderleins Rede. Es schwappten Frechheit, Lust und Selbstvertrauen durch das geöffnete Fenster, und die Frauen entschieden, sich mit dem tapferen Schneiderlein einzulassen.

 

Geschichten, Ereignisse und Erkenntnisse, die sich in aktiven Imaginationen entwickeln, dürfen und können nicht geplant noch kontrolliert werden.  In unserem Fall war es nicht nur die Imagination einer einzelnen Frau, die  aus gewohnten Erwartungen auszubrechen begann , es waren deren acht.

 

Es waren deren acht, die sich darauf einliessen, ihr Wissen, ihre Instinkte und  ihre Erfahrungen als vertrauenswürdig zu erkennen. Keine Heldentaten, Gott bewahre! Eher: die Möglichkeiten zu sehen und zu nutzen, die sich zeigen, auch wenn es etwas unverschämt  erscheinen sollte.

 

Es entstand für jede der acht Frauen am Ende eine andere Pointe, oder Einsicht, oder Inspiration, die Ihrige eben. Und das tapfere Schneiderlein?  

 

Der Einbruch des Unerwarteten.

Wir sind gewohnt zu denken, dass wir uns verändern, klüger und bewusster werden, weil wir uns Gedanken machen, über uns und die Welt. Interventionstheorien hingegen gehen eher davon aus, dass wir reifer, mehr uns selbst, lebensfähiger und kreativer werden, weil das Leben uns von Zeit zu Zeit stolpern, uns Züge verpassen, Grippe bekommen, Arbeitsplätze verlieren und Beziehungen zerbrechen lässt. Solche grössere und kleinere  Schütteleffekte  dissoziieren die bisherige Zusammensetzung unserer Vorstellung über uns selbst und die Welt im allgemeinen. Ein Riss tut sich auf im Selbstbild, wir müssen uns gezwungenermassen neu zusammensetzen: unsere Aufmerksamkeit wird erhöht und  unsere Intelligenz animiert, neue Vorstellungen werden notwendig und damit werden neue Entwicklungen möglich.

 

Freilich, Erfahrungen alleine verändern uns nicht zwingend; wir müssen es dem Leben erlauben, dass es uns manchmal überlistet, über unseren eigenen Schatten zu springen. Wie ist das zu verstehen?  Dieser Frage geht das Buch 'Der Einbruch des Unerwarteten' nach, in Begegnungen mit alten Traditionen, in aktuellen psychotherapeutischen Versionen und im dritten Teil schliesslich mit den Möglichkeiten, sich mit den Interventionen des Leben einzulassen.

 

Vom weiblichen Ungehorsam

handelt vom Blaubart Thema: ein Mädchen heiratet einen Mann (mit einem blauen Bart), der ist ihm nicht ganz geheuer, doch die Mutter redet ihm zu: eine gute Partie; ausserdem reich und mächtig, was durchaus seinen Reiz hat. Nach der Hochzeit dann findet das Mädchen in einem verschlossenen Zimmer Gebeine von unzähligen Vorgängerinnen, alle umgebracht und zerstückelt. Das Mädchen will erschrocken fliehen, doch einmal in der Falle gibt es keinen Weg hinaus.

 

In alten Zeiten gab es keine wissenschaftliche Statistiken.  Wissen über wirkende Lebensmuster wurden in Mythen und Märchen verpackt,  so wussten folgende Generationen um die Gefahren. Dabei handelt es sich weniger um Unglücksfälle und Verbrechen,  die mehr oder weniger exakt zu orten sind, sondern um psychische Topografien, die den offiziellen Ereignissen den Schauplatz vorbereiten.

 

Meine Geschichten vom weiblichen Ungehorsam erzählen von drei Frauen aus zeitlich weit auseinanderliegenden Zeitepochen, darüber unter welchen Voraussetzungen sie in die Gewalt von Blaubart gelangen und auch wie sie dieser Gewalt wieder (lebend) entkommen: von einer Herzogin aus  dem Mittelalter, von  Ada, einer Frau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, und schliesslich ist da noch Kathrin, eine moderne junge Frau, die sich für emanzipiert hält und nichtsdestotrotz im Blaubarts Burg eingeschlossen ist.

 

Es geht um Emanzipation aus einem Winkel, der leicht übersehen wird.  Im Blaubart Märchen gibt es nicht nur einen Mann und eine Frau, sondern ebenso die Schwestern und Brüder der Frau. Es sind Geschichten darüber, wie in der Auseinandersetzung mit einem dominierenden männlichen Machtprinzip erst das Zusammenspiel von weiblich und männlich zum gewünschten Ergebnis führt.

 

So erscheint im "Der weibliche Ungehorsam" wie nebenbei eine  Blaupause  eines möglichen zukünftiges Männlichen,  das sich in diesen Tagen  - leicht übersehen - bei einer neuen Generation von Vätern, Brüdern, Ehemännern und Geliebten finden lässt . Und umgekehrt gilt, dass auch Frauen sich die Frage zu stellen haben, wie weit sie sich von den durchaus faszinierenden Attributen des blauen Bartes gefangen nehmen lassen. Diese letzteren Konsequenzen sind nicht mehr Thema des Buches. Jeder und jede kann sich auf seine Weise damit auseinandersetzen, wie das bei Märchen so üblich ist.